„Auflösung, damit Neues entstehen kann“

Interview zum Strategiekongress mit Frank Reintgen

Wie kann eine neue Form von Kirche aussehen? Was muss „weg“ vom Bisherigen, um Platz für Neues zu schaffen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich der 7. Strategiekongress vom 7. bis zum 8. Dezember 2022. Unter dem Titel „Auflösung. Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?“ kamen etwa 170 Fachleute aus der evangelischen und katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum an der Thomas Morus Akademie in Bensberg zusammen.

Markus Schüppen: Was bedeutet der zugespitzte Titel des Kongresses: Auflösung? Ist die Kirche nicht mehr reformierbar?

Frank Reintgen: Den Titel „Auflösung“ haben wir bewusst gewählt, um das Thema zuzuspitzen. Dabei wurde aufgegriffen, was die Bischöfe seit Jahren im Grunde selber sagen: Dass eine bestimmte Form von Kirche an ihr Ende kommt: Die Volkskirche mit all dem, was dazu gehört. Da löst sich etwas auf. Und noch gibt es nur wenig Vorstellung davon, wie eine Kirche der Zukunft aussehen könnte bzw. aussehen müsste. Hier gilt es zurzeit diese Leerstelle auszuhalten.

Besagte Leerstelle stellt vor allem jene vor Herausforderungen, die Pastoral in Führungspositionen gestalten, die die Aufgabe haben Perspektiven und Strategien zu entwickeln. Das bedeutet dann auch eine gewisse Hilflosigkeit und Ratlosigkeit.
Es braucht also neue Konzepte. Wie geht man in eine Zukunft, deren Konturen nur schemenhaft zu erkennen sind? Wie kann diese Entwicklung von Kirche professionell begleitet werden?

Gemeinsam wollten wir uns also mit den drängenden Fragen auseinandersetzen: Was braucht es an Auflösung und Loslassen, damit Neues entstehen kann? Welche Muster müssen unterbrochen werden, damit sich Anderes Weg bahnen kann?

Mit diesen Themen haben wir einen Nerv der Zielgruppe getroffen. Schon nach Tagen war der Kongress überbucht und es gab eine lange Warteliste.

Markus Schüppen:

An wen richtet sich der Kongress, wer ist die Zielgruppe?

Frank Reintgen: Mit unseren Kongressen sprechen wir Führungspersonen aus den Kirchen an, die an strategischen Schnittstellen arbeiten und wirken. Das sind zum einen Entscheider der obersten und mittleren Ebene. Das sind aber auch Berater, die diese Ebenen mit ihren Expertisen unterstützen und beraten.

Jedoch werden auch bewusst Impulsgebende eingeladen, die nicht aus einem kirchlichen Kontext kommen. Das erweitert die binnenkirchliche Perspektive. Zu unseren Kongressen kommen Menschen, die Lust haben im Austausch mit anderen gemeinsam, strategische Fragestellungen in den Blick zu nehmen. Uns interessiert die Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft. Die Sprachspiele des Kongresses sind eher soziologisch, organisationstheoretisch als theologisch geprägt.

Markus Schüppen: Was gab es dazu für Impulse?

Frank Reintgen: Einen Impuls möchte ich besonders hervorheben – auch, weil es bei vielen Kongressteilnehmenden eine starke Wirkung zeigte. Wir haben im Kongress eine kurze Filmsequenz gezeigt: Ein schwedisches Filmteam hatte Menschen gefilmt, die auf einem Zehn-Meter-Turm standen. Ihnen wurde gesagt: Du bekommst zehn Euro, wenn Du runterspringst.

Da waren die unterschiedlichsten Menschen oben auf dem Turm, und es war spannend und faszinierend zu sehen, wie schwer die Schritte an die Kante waren. Manche hatten schon den Fuß in der Luft und trotzdem sind sie wieder zurückgegangen.

An genauso einer Stelle, glaube ich, stehen wir als Kirche im Moment: Es bräuchte einen großen Sprung, in eine ungewisse Zukunft, wo wir den sicheren Boden des Zehn-Meter-Brettes verlassen, ohne doppelten Boden in der Luft schweben und uns ins Wasser stürzen. Kirche im Moment bewegt sich immer wieder hin zur Kante, um dann doch vor dem Sprung ins Ungewisse zurückzuschrecken. Sich auszutauschen, welche Dynamiken wirksam sind, wenn Kontexte und Paradigmen sich radikal ändern und was das für Entscheider und Führung bedeutet. Das waren wichtige Fragen des Kongresses.

Diese Veränderungen müssen keine Angst machen. Denn aus der daraus resultierenden Leere kann Neues entstehen. Leben, Sterben und Auferstehung sind Grunderfahrung unseres Glaubens. Wir können zuversichtlich sein, dass Kirche eine Zukunft hat, wenn auch in einer ganz anderen Gestalt als heute.

Markus Schüppen:: Die Analyse war also, dass die kleinen Schritte nicht reichen. Gab es denn schon Ansätze, wie der radikale Umbau gedacht werden kann, wie es mit konkreten Umsetzungen gehen kann?

Frank Reintgen: Unterschiedliche Menschen haben auf dem Kongress berichtetet, wie das gehen kann, Altes zu lassen. Wir hörten ein Beispiel aus einem Familienunternehmen, das gezwungen war den Betrieb völlig neu auszurichten. Auch einige kirchliche Projekte, die von einer radikal anderen Logik geprägt waren, als standardmäßiges Handeln in der Kirche, berichteten von ihren Erfahrungen. Wichtiger war für uns aber darüber hinaus die Frage: Wo entsteht der Widerstand? Und halten wir das aus?

Die Austrittszahlen zeigen eine lineare Bewegung seit 20 Jahren. Mittlerweile kommen wir aber an vielen Stellen auch in eine Situation, wo wir oft nur noch Getriebene sind. Beim Sprung von einer durch die Finanzmittel sehr mächtigen Kirche hin zu einer Kirche, die diese Potenz zunehmend verliert, nehme ich wahr, dass es dafür wenig Führungs- und Gestaltungswillen gibt, um das aufzufangen. Hier reibt sich vieles an dem Veränderungsdruck.

In einem ist man sich im Moment jedoch einig: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Aber wie soll es denn konkret weitergehen? Und da fängt es an, spannend zu werden. Der Kongress machte deutlich, wie schwer es fällt, gewohnte Muster zu unterbrechen. Zu realisieren, dass es zurzeit keine konkrete Idee gibt, wie sich Kirche zukunftsfähig verändern kann. Das kann aber eben auch eine heilsame Unterbrechung darstellen. Denn nur da, wo wir unser Standardprogramm unterbrechen und auf unsere Standlösungen verzichten, entsteht Raum für Kreativität oder fromm gesagt, kann der Heilige Geist wirken.

Markus Schüppen:: Und das hat der Kongress ja den Teilnehmenden nachhaltig vor Augen geführt. Wie werden Ergebnisse kommuniziert, wie geht es weiter damit?

Frank Reintgen: Zum einen gehen wir davon aus, dass die Teilnehmenden selbst, die durch ihr Engagement und ihre Stellung in den kirchlichen Kontexten hervortreten, eine ganze Menge an Ideen und Eingaben in ihre Wirkungsfelder mitnehmen.

Darüber hinaus ist auch medial im kircheninternen Raum viel passiert. Die Medien haben viel über den Kongress berichtet und in den sozialen Medien hat im Anschluss und während des Kongresses eine inhaltliche Auseinandersetzung stattgefunden. Geplant ist auch, die Impulse des Kongresses in eine Buchpublikation zu bringen.

(veröffentlicht auf: https://www.erzbistum-koeln.de/institutionen/stiftungszentrum/interview-mit-frank-reintgen/)