Liebe Gemeinde von St. Severin,
liebe Gäste,
liebe Brüder und Schwestern,
vor gut einem halben Jahr hat mich Pfarrer Johannes Quirl gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, beim diesjährigen Severinus-Fest zur Schrein-Prozession die Festpredigt zu halten. „Quo vadis Kirche? Wohin gehst du, Kirche?“ – das sollte das Thema der Predigt sein. Sehr gerne und sehr schnell habe ich damals zugesagt.
Seit einigen Jahren arbeite ich inzwischen als Referent der Diözesanstelle für den „Pastoralen Zukunftsweg“. Als Diözesanstelle unterstützen wir bistumsweit Gemeinden, Pastoralteams, Pfarrgemeinderäte und andere Gremien, die Kirche partizipativ, mit den Menschen vor Ort entwickeln wollen. Und auch auf Bistumsebene versuchen wir, auf strategische Überlegungen Einfluss zu nehmen. Die Frage „Kirche quo vadis – wohin gehst du, Kirche? ist eine Frage, die mich tagtäglich in meiner Arbeit begleitet.
„Wir stehen im Umbruch der Zeit“, so heißt es in einem der vielen Severinus-Lieder, das sicherlich auch heute Abend gesungen wird. Ich glaube tatsächlich, dass wir innerhalb der Kirche in einem Zeitenumbruch stehen. Die Kirche befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Eine bestimmte Form des Kirche-seins ist an ihr Ende gekommen. Das jetzige Gewand der Kirche, mit den aktuellen Strukturen und der oft klerikal geprägten Kultur passt nicht mehr für die Menschen und die Erfordernisse unsere Zeit. Christinnen und Christen spüren das und drängen nicht nur im Erzbistum Köln, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit auf Veränderungen.
Insbesondere die sexuellen Missbrauchsverbrechen, die im Raum der Kirche in den letzten Jahrzehnten möglich waren und die Art und Weise wie die Verantwortungsträger der Kirche damit umgehen, haben zu einer tiefen Vertrauenskrise im Kirchenvolk geführt. Wir befinden uns mitten in einer Kirchenkrise. Menschen treten vermehrt aus der Kirche aus. Und viele Gläubige fragen sich, ob sie noch guten gewissen Teil dieser Kirche sein können, sein wollen. So kann, so darf es nicht weitergehen.
Das war auch sehr deutlich zu spüren, als ich vor einigen Wochen mit einigen Mitgliedern Ihrer Gemeinde ins Gespräch über das heutige Predigtthema gekommen bin. Mir war dieses Gespräch wichtig. Ich wollte mitbekommen, was Menschen hier vor Ort an dem Thema bewegt. Dieses Gespräch, das vor ein paar Wochen hier im Pfarrheim stattgefunden hat, ist mir nachdrücklich in Erinnerung geblieben, weil auch hier das Hadern mit und der Ärger über die Art und Weise, wie Kirche agiert spürbar war.
Einige Beiträge möchte ich sinngemäß zitieren:
- „Die Art und Weise, wie Kirche mit dem Thema Missbrauch umgeht, finde ich unerträglich“
- „Die sonntäglichen Gottesdienste geben mir nichts mehr. Ich nehme nur noch selten teil und stelle fast erschrocken fest, ich vermisse nichts.“
- „Das lässt mich nicht kalt, dass wir am Sonntag nur noch wenige sind.“
- „Ich schäme mich, für meine Kirche. Sie bleibt hinter allgemeingültigen Standards von Toleranz, gegenseitiger Wertschätzung und demokratischen Grundprinzipien zurück.“
- „Ich erlebe mich als ausgegrenzt und fühle mich mit meiner Lebensform, mit meiner sexuellen Ausrichtung in der Kirche nicht willkommen.“
Mir hat das Gespräch noch einmal neu bewusst gemacht, wie tiefgehend und existenziell die aktuelle Krise der Kirche von vielen Gläubigen erlebt wird. Die aktuelle Situation der Kirche gerade auch im Erzbistum Köln, erschüttert, verärgert, macht ratlos. Die Frage „Kirche quo vadis – wohin gehst du, Kirche“ berührt Menschen persönlich, existenziell. Das Gespräch zeigt, wie spannungsvoll Kirche auch von Menschen hier vor Ort erlebt wird. Kann sich diese Kirche ändern? Und wie müsste sich Kirche ändern. Diese Frage treibt viele Menschen um.
Ich merke bei mir selber, dass mich beim Nachdenken über die aktuelle Situation der Institution Kirche eine Schwere und Ratlosigkeit befällt, die nicht guttut. Am Ende geht es mir doch gar nicht um Kirche, denn Kirche ist ja kein Selbstzweck. Sie hat eine dienende Funktion.
Und schon lange frage ich mich, ob all die Krisenphänomene von Priestermangel, über Kirchenaustritte, knapper werdende Ressourcen, zunehmende Polarisierung bei den Gläubigen und Bischöfen usw. nicht als Zeichen der Zeit zu deuten sind; als Hinweis Gottes, dass die aktuelle, klerikal geprägte Form der Kirche nicht im Sinne Gottes ist. Mir scheint, dass Gott uns einlädt, Kirche ganz neu oder besser gesagt im Sinne Jesu ganz ursprünglich zu denken, zu gestalten und zu leben.
Es geht beim Christsein doch nicht darum, das Überleben der Institution Kirche zu sichern, sondern um die Frage, wie das Evangelium bestmöglich in die Welt hineingetragen werden kann. Wie muss Kirche gestaltet sein, damit sie Menschen hilft, in der Spur Jesu zu leben? Wie muss Kirche sich entwickeln, damit sie „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ sein kann, wie es die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert (Kirchenkonstitution n. 1. 48; vgl. 59).
Bei all unserem berechtigten Hadern mit der Institution, ist es wichtig offenzubleiben für den Schatz, den die Botschaft des Jesus von Nazareth auch heute noch für uns Menschen darstellt.
Mit dieser Vorrede, lade ich ein, noch einmal den Bibeltext von der Aussendung der 72 Jünger, den wir eben gehört haben, in den Blick zu nehmen. Aus ihm lassen Perspektiven gewinnen, die wichtig sind für unser Christ-sein, und für die Art und Weise, wie wir Kirche miteinander sein wollen.
„…danach setzte der Herr weitere zweiundsiebzig Jünger ein und sandte sie.“
Ich bin mir nicht sicher, ob die 72 Jüngerinnen und Jünger, die Jesus sendete, sich über den Auftrag Jesu sehr gefreut haben. Denn ich stelle mir vor, wie schön es gewesen sein muss, mit ihm zusammen unterwegs zu sein, in Gemeinschaft mit ihm zu leben, in seiner Nähe zu sein, seinen Worten zuzuhören und zu erleben, wie er Menschen begegnete. Eine echt tolle Gemeinschaft! Aber Jesus mutet den 72 zu, die eigene Komfortzone zu verlassen und über die eigenen Grenzen hinauszugehen, die eigene Kerngemeinde zu überschreiten, den Rest der Welt nicht aus dem Blick zu verlieren, auf andere zuzugehen. Eine Kirche, in der sich ein Heiliger Rest sammelt und die sich selbst genügt, kann sich nicht darauf berufen Kirche im Sinne Jesu zu sein.
„Er sandte je zwei und zwei“
Jesus ist nicht der einsame Held, der Einzelkämpfer, der alles alleine machen will. Er braucht die 72 als Mitstreiter für die Sache des Evangeliums. Jesus kann Verantwortung teilen und andere teilhaben lassen an seiner Sendung.
Was für ein Vertrauen in seine Jüngerinnen und Jünger ist da bei Jesus zu spüren! Er verlässt sich darauf, dass sie mit ihren je eigenen Möglichkeiten und ihren von Gott geschenkten Gaben in seinem Sinne handeln werden. Wo erleben Menschen im kirchlichen Raum, dass ihnen vertraut, etwas zugetraut wird? Wo erleben Menschen, dass sie eigenständig Verantwortung übernehmen können? Ohne dieses Gegenseitige vertrauen, dass Gott in allen Menschen wirkt, das Gott allen Menschen Charismen und Fähigkeiten geschenkt hat, wird Kirche keine Zukunft haben.
Jesus sendet seine Jünger nicht einzeln, sondern zu zweit, als Team. Das verhindert Überforderung, und ermöglicht Teilhabe und geteilte Verantwortung. Im biblisch-jesuanischen Sinne heißt Kirche sein, gemeinsam unterwegs sein, miteinander einem Weg gehen. Die Kirche der Zukunft wird auf allen Ebenen neu lernen müssen, eine Kirche zu sein, in der sich das synodale „gemeinschaftliche Gehen“ in Stil, Kultur und Struktur niederschlagen. Genau darum geht es Papst Franziskus bei dem Prozess der Weltsynode, den er initiiert hat. Bis 2024 sind Gläubige, Bischöfe und der Bischof von Rom eingeladen neu miteinander zu entdecken, wie das kirchliche Miteinander zu reformieren ist. „Synodalität“, so Papst Franziskus, „ist der Weg, den Gott sich von der Kirche des 3. Jahrtausend erwartet.“ (Ansprach bei der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Errichtung der Bischofssynode)
„Tragt keinen Geldbeutel bei euch, keine Tasche und keine Schuh“
Albert Ruet , der ehemalige Bischof von Portier, weist darauf hin, dass die Jünger, die ohne Geldbeutel , ohne Tasche und ohne Schuhe gesandt werden, „auf diese Weise allein auf ihr Menschsein angewiesen sind, (und somit) etwas tun müssen, damit sie akzeptiert werden; dass sie Menschen durch ihre Freundlichkeit gewinnen müssen, damit sie Herberge und Essen bekommen. Denn es wartet niemand auf sie. Christus versetzt sie in eine Situation, in der sie um Gastfreundschaft bitten müssen.“ (Albert Ruet: Erstaunter Glauben. Dank an die religiös Uninteressierten, Ostfildern 2022, S. 143)
Als Kirche wird uns zurzeit sehr schmerzhaft bewusst, dass wir an Einfluss, Macht und Relevanz verlieren. Finanzmittel werden knapper und Mitglieder werden weniger. Die gesellschaftliche Relevanz nimmt ab. Einfluss auf Politik und öffentliche Meinungsbildung gelingt kaum noch.
Wir werden als Kirche lernen müssen mit dieser Ohnmacht umzugehen. Aber steckt in dieser vermeintlichen Ohnmacht nicht eine große Freiheit und ist sie nicht viel mehr dem Evangelium gemäß als der bisherige Habitus.
Durch diese Situation ist die Kirche, sind wir, ganz im Sinne des heutigen Evangeliumstextes herausgefordert, neu zu lernen, mit den Menschen auf Augenhöhe zu kommunizieren und wirklich hinzuhören auf das, was Menschen bewegt. Kirche wird lernen müssen, sich ganz neu die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ zu eigen und zum Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über Gott und die Welt zu machen (2. Vatikanische Konzil, Gaudium et spes)
Eine Kirche, die sich von Jesus inspirieren lässt, muss wie die Jüngerinnen und Jünger Jesu gewohnte Sicherheiten verlassen und sich auf die konkrete Realität, die Lebenswelten und die Lebenswirklichkeiten der Menschen einlassen. Sie muss sich immer wieder verändern und reformieren, weil das Evangelium in jede Zeit und jede Kultur neu gesprochen und entdeckt werden will.
„…wenn ihr in eine Stadt kommt, dann esst, was euch vorgesetzt wird.“
Das ist spannend! Jesus fordert die Jüngerinnen und Jünger nicht auf in die Städte zu gehen und den Menschen dort das Kochen beizubringen, sondern er fordert von Ihnen: „esst, was man euch vorsetzt.“ Hinhören, wahr und ernst nehmen. Echtes Interesse zeigen. Kirche wird da für Menschen neu interessant und relevant werden, wo sie spüren, dass es um echte Begegnung geht; Dass sie und ihre Anliegen wahr und ernst genommen werden; Dass es um ihr „Heil-werden“ geht und sie als Person in ihrem So-sein respektiert und angenommen werden.
„Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen“
Zum Ende des Bibeltextes kommt in den Blick, was Kernanliegen der Botschaft Jesu ist. Menschen sollen Heilung erfahren. Sie sollen hören, spüren und erleben, dass auch Ihnen Gottes Liebe gilt, dass das Reich Gottes allen nahe ist. Und dieses Heil-werden geschieht auch jenseits der Gemeinden, der Pfarrei, des kirchlichen Binnenraums. Auch außerhalb des kirchlichen Raums wirkt Gott, ist Reich Gottes erfahrbar und erlebbar. Gottes Liebe zu uns Menschen ist grenzenlos. Sie gilt allen Menschen.
Zum Schluss möchte ich nochmal das Gespräch mit einigen Gemeindemitgliedern in den Fokus rücken, das vor einigen Wochen stattgefunden hat. Wie gesagt war da Wut und Betroffenheit, Frust, Ärger, Ratlosigkeit bei den Teilnehmenden deutlich wahrnehmbar. Aber es war da auch noch eine andere, fast trotzige Stimmung spürbar, eine Lust und Motivation mit anderen gemeinsam das Leben und den Glauben zu teilen. Das klang ungefähr so:
- „Ich kann gut trennen zwischen der Institution Kirche und dem kirchlichen Leben vor Ort. Aus der Begegnung und den Erfahrungen mit den Menschen in unserer Gemeinde schöpfe ich Energie und Kraft“
- „Wir sind von Gott mit Kompetenzen, Gaben, Charismen beschenkt. Wer wollte uns hindern, wenn wir uns als Christinnen und Christen zusammentun und miteinander Kirche leben?“
- „Wir können doch gestalten! Ich kann mit dafür sorgen, dass das, was mir wichtig ist am kirchlichen Leben, stattfindet.“
- „Ich habe mich mit andern Zusammengetan und wir haben eine Gottesdienstform entwickelt, die uns guttut.“
Ich glaube, dass in diesen Äußerungen der Geist des Evangeliums aufscheint. Dieser Geist atmet Freiheit, Selbstbewusstsein, Lebensfreude und Sehnsucht nach gelingendem Leben. Ich wünsche ihnen, dass sie an der Kirche nicht verbittern und dass sie ansprechbar bleiben für diesen Geist des Evangeliums. Leben Sie das vom Evangelium, was sie verstanden haben und sei es auch noch so wenig. Finden Sie andere Weggefährten, mit denen Sie ihren Glauben teilen können und mach sie sich gemeinsam auf die Suche nach dem Leben in Fülle, das uns verheißen ist.
Wohin gehst du, Kirche? Kirche geht dahin, wohin wir sie tragen. Sie wird da präsent sein, wo wir uns in unseren unterschiedlichen Lebenskontexten als glaubende, hoffende, liebende Menschen erweisen, in der Partnerschaft, in unserer Familie, bei der Arbeit, in der Freizeit, in unserem Lebens- und Sozialräumen, in unserem Engagement für andere.
Kirche geht dahin, wohin wir sie tragen, der Spur Jesu folgend. Schon heute wächst diese Kirche, die davon lebt, dass Christinnen und Christen Verantwortung für das kirchliche Leben in ihrem Umfeld übernehmen. Kirche wird zukünftig da sein, und zwar nur da sein, wo Menschen sich mit ihren Kompetenzen und Begabungen bzw. biblisch gesprochen ihren Charismen in das kirchliche Leben einbringen. Ich gehe los! Gehst Du mit?