Mehr als Worte sagt ein Lied

Schon seit den ersten Christen haben Lieder im Leben der Gemeinden eine große Bedeutung gespielt. Immer schon spiegelten sich in den Gesängen die Hoffnungen und Ängste, die Freuden und Sorgen der christlichen Gemeinden wieder. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind jedoch setzte eine vor nicht gekannte Schaffenskraft ein. In den letzten 50 Jahren entstanden im deutschsprachigem Raum so viele sogenannte „Neue geistliche Lieder“ entstanden, wie nie zuvor. Vorsichtige Schätzungen gehen von weitaus mehr als 10 000 neuen Liedern aus. Eines der bekanntesten Lieder dieser Art dürfte das Lied „Danke für diesen guten Morgen“ sein, das in den 60er Jahren sogar in die Hitparaden der Radiostationen einzog. Wenn es auch einen kleinen Stamm Neuer geistlicher Lieder gibt, die zumindest der Gottesdienstgemeinde bekannt sind, so gibt es einen weitaus größeren Teil an Liedern, die kaum jemand kennt. Manche Lieder, wurden eigens für einen besonderen Anlass getextet bzw. komponiert und wurden darüber hinaus nicht mehr gesungen. Doch was war eigentlich das neue an den Liedern?

Neue Musik – alte Tradition

Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, welchen Wirbel es auslöste, als in immer mehr Gottesdiensten plötzlich Schlagzeuge und E-Gitarren auftauchten und ein jazziger, rockiger Sound durch die Kirchen schallte. Bei vielen war die Empörung groß. Eine heftige Diskussion setzte ein, ob denn diese Art Musik in den gottesdienstlichen Rahmen passte. Wenn auch inzwischen dieser Musikstil zunehmend Anerkennung in den Gemeinden findet, so tun sich manche kirchenamtliche Stellen bis heute schwer damit, in dieser Musikform einen Gewinn für die Gestaltung von Gottesdiensten zu sehen.
Doch für die jungen Menschen in den Gottesdiensten war es wichtig, dass nun auch ihre Musik im Gottesdienst gespielt wurde. Wer selber Kinder hat, der weiß, welche Bedeutung Musik gerade im Leben von jungen Menschen hat.
Inzwischen hat sich diese Musikrichtung im Leben der meisten Gemeinden etabliert. Und wenn es auch ein par Ausnahmen gibt, der Sound der Lieder entspricht längst nicht mehr dem aktuellen Hörgewohnheiten einer Vielzahl junger Menschen. Heute sind die Neuen geistlichen Lieder nicht mehr Lieder der jungen, sondern eher der älteren, etablierten Gemeindemitglieder.

Neue Texte – alte Wahrheiten

War zunächst eher die Musik das besondere an den Neuen Geistlichen Liedern, so änderten sich doch zunehmend auch die Texte dieser Lieder. Die ersten Lieder waren sprachlich noch sehr einfach gehalten. Doch in der Folgezeit entstanden in Ahnlehnung an die moderne Lyrik auch formal sehr anspruchsvolle Titel. Auch inhaltlich tauchten in den Liedern mehr und mehr aktuelle Fragen nach weltweiter Gerechtigkeit, nach Frieden und Abrüstung, nach sozial kritischem Engagement, entschiedenem Christentum, nach Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung auf, die in den traditionellen Kirchenliedern so gut wie gar nicht thematisiert wurden. Nicht zuletzt dem 2. Vatikanischen Konzil war es zu verdanken, dass mehr und mehr Texter versuchten, den Glauben in einer zeitgemäßen Form zur Sprache zu bringen. Und dennoch geht es in den Texten immer wieder um die tradierten Glaubenswahrheiten: Dass Gott ein menschenfreundlicher Gott ist;
Der die Schöpfung ins Leben gerufen hat, so dass Menschen gut in ihr Leben können;
Der dem Menschen Freiheit schenkte, so dass er Verantwortung trägt in dieser Welt;
Der in Jesus Christus den Menschen einen Weg gezeigt hat, so dass ihr Leben wahrhaft glücken kann.
Der seinen Guten Geist gesandt hat, der Menschen zu einem neuen Lebensstil ermutigt und bestärkt.

Lieder der Erneuerung

Spannend ist es, dass die Neuen geistlichen Lieder für die unterschiedlichen Erneuerungsbewegungen innerhalb der Kirche in den letzten Jahr eine wichtige Rolle gespielt haben.

Neue geistliche Lieder – ökumenisch

Schon von ihrer Machart her sind viele Neue geistliche Lieder ökumenisch angelegt. Das heißt, sie haben einen katholischen Autor und einen evangelischen Komponisten bzw. umgekehrt. Doch darüber hinaus sind viele Lieder in der ökumenischen Bewegung entstanden. Gerade Jugendliche war es, die sich mit dem Riss der durch die christlichen Kirchen geht nur schwer abfinden konnten. So entstanden neue liturgische Formen wie die Ökumenische Beatmessen, gemeinsame Jugendkreuzwege, Taizegebete usw.., die ohne Neue geistliche Lieder nicht denkbar gewesen wäre.

Neue Geistliche Lieder – gesellschaftskritisch

Auch die Gemeinden sind von den Studentenunruhen der sogenannten 68er nicht unberührt geblieben. Insbesondere Jugendverbände wie die Katholisch Studierende Jugend und die Katholische Junge Gemeinde macht die Themen der weltweiten wirtschaftlichen Ungerechtigkeit zu Thema. Auch hier erfüllten Neue Geistliche Lieder eine wichtige Funktion. Denn nun entstanden Lieder, die die Themen der brennenden sozialen Fragen aufgriffen. Katholikentage und Kirchentage waren Orte, an denen die gesellschaftspolitische Relevanz des Christentums diskutiert wurde. Mit der Zeit der Friedensbewegung, die gerade von Basisgruppen der Kirche mitgetragen wurde, kam zu dem Thema der weltweiten Gerechtigkeit ein weitere Aspekt hinzu. Die Sehnsucht nach einem Frieden, der nicht auf Abschreckung und Waffen vertraut, tauchte in immer mehr Liedern auf. Nun wurden Neue Geistliche Lieder wie das bekannte Lied „Herr, gibt uns deinen Frieden“ sogar auf Friedensdemonstrationen gesungen. Neue Geistliche Lieder verließen die Kirchenmauern und wurden mancherorts zum Protestsong.
Mit dem Bewusstwerden der ökologischen Krise fand später auch die Sorge um die Bedrohte Schöpfung zunehmend in Neue Geistliche Liedern einen Niederschlag.

Neue Geistliche Lieder – ein neues Kirchebild

War das Gemeindebild am Anfang dieses Jahrhunderts noch sehr priesterfixiert, so öffnet das 2 Vatikanisch Konzil den Blick für neue (und dennoch schon biblisch alte) Kirchenbilder. Für das Leben der Kirche sind nicht nur die Amtsträger von Bedeutung, sondern jedes Gemeindemitglied trägt als Getaufter Christ mit dafür Verantwortung, sich und seine Begabungen zur Verlebendigung der Gemeinde mit einzubringen. Der Blick wird zudem dafür frei, dass auch die Kirche keine perfekte Gemeinschaft ist. Auch sie muss sich immer wieder neu auf den Weg machen, dem Auftrag Christi gerecht zu werden.
Das veränderte Selbstbewusstsein der Kirche findet insbesondere seinen Niederschlag in der Art und Weise wie die Gottesdienste und dabei insbesondere die Messfeiern gestaltet werden. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil entdeckt die Kirche den Reichtum wieder, den es bedeutet, wenn die ganze versammelte Gemeinde aktiv im Gottesdienst beteiligt ist und nicht nur passive Teilnehmer eines Ritus ist. Diese aktive Teilnahme der ganzen Gemeinde wird insbesondere beim gemeinsamen Singen deutlich. Und gerade dieses Mitsingen aller wollten viele Neue Geistliche Lieder mit ihren oft einfachen Melodien ermöglichen. Anders als bei vielen klassischen Messen, laden die (meisten) Neuen Geistlichen Lieder die gesamte Gemeinde zum Mitsingen ein. Und auch in vielen Texten spiegelt sich die Sehnsucht nach einer lebendigen, glaubwürdigen Kirche wieder; die Sehnsucht nach einer Kirche, in der schon heute Praxis ist, was erst für Morgen erhofft wird.
Das auch morgen noch Lieder gesungen werden – zu seinem Lob

„Singt dem Herrn ein neues Lied“, so heißt es im Psalm 149. Jede Generation steht vor der Aufgabe, immer wieder neu ihre Lieder zu finden, mit denen sie Gott angemessen loben kann. Das bedeutet, in jeder Zeit muss wieder „neu buchstabiert werden, was Glauben heute heißt“, wie es auch in ein Neues Geistliches Lied besingt. Es muss musikalisch die Form gefunden werden, die am besten das ausdrückt, was die Menschen der jeweiligen Zeit bewegt, was sie fühlen und empfinden. Es ist egal ob wir Gott mit gregorianischem Choral oder mit rockigen Beatrhythmen unser Loblied singen. Wichtig ist, dass jeder die musikalische Form findet, die ihm angemessen ist. Die musikalische Vielfalt in unserer christlichen Tradition gilt es zu pflegen. Und natürlich gehören die Neuen Geistlichen Lieder dazu.

Veröffentlicht in:

Pfarrbrief St. Severin (Datum unbekannt)