Christus begegnet uns in der Welt, mitten im Zeitgeist

Die Gemüter sind erregt. Das Grußwort, das Erzbischof Gänswein im Auftrag des emeritierten Papstes Benedikt anlässlich der Beerdigung von Kardinal Joachim Meisner im Kölner Dom gesprochen hat, polarisiert. Benedikt wird vorgeworfen, dass er mit diesem Grußwort Papst Franziskus kritisieren wolle. Erzbischof Gänswein, Präfekt des päpstlichen Haushaltes und Sekretär des zurückgetretenen Papstes Benedikts, erklärte inzwischen in einem Interview, dass „das Grußwort keine Kritik an Papst Franziskus und seiner Amtsführung darstelle“ und der emeritierte Papst „willkürlich instrumentalisiert worden (sei), mit diesem Satz, der auf nichts Konkretes“ anspiele. Dieser Vorgang hat ein starkes mediales Echo hervorgerufen. Und selbst wenn man dem emeritierten Papst keine Absicht unterstellen mag, so ist sein Grußwort dennoch als Affront gegen den Papst Franziskus verstanden worden.

Egal wer nun in der Deutung dieses Vorganges recht hat, festzuhalten ist, dass man in der aktuellen kirchlichen Situation dem emeritierten Papst eine solche Intention zutraut. Allein das wirft ein bedrückendes Licht auf den Zustand der Kirche. Angesichts zahlreicher Machtkämpfe im Vatikan bzw. der päpstlichen Kurie, die in den letzten Wochen mehr oder weniger öffentlich ausgetragen wurden, erscheint vieles, eigentlich Undenkbare, als möglich. Nochmal, egal ob die Vorwürfe gegen Erzbischof Gänswein zutreffen, man traut ihm und anderen Amtsinhabern im Vatikan diesbezüglich eine Menge zu. Und das muss alle, denen der Mann aus Nazareth und seine Botschaft ein Herzensanliegen ist, bedrücken!

Hinweisen möchte ich aber auch auf einen anderen Punkt, der mich in dem Grußwort Benedikts stark verwundert. Es ist das Weltbild, dass in den Worten Benedikts zum Ausdruck kommt. Benedikt spricht von einer „Diktatur des Zeitgeistes“, der aus dem Glauben heraus entschieden zu widerstehen sei.

Mich irritiert diese Aussage zutiefst. Aus diesem Wort spricht für mich eine Abgrenzung von der Welt, die mir sehr fremd ist. Leben wir nicht in der Welt, die uns von Gott, dem Schöpfer, als Lebensraum geschenkt ist? Klar, seit Menschen leben, stehen sie vor der Herausforderung, dass die Welt nicht nur Gabe sondern immer auch Aufgabe ist: Gerechtigkeit schaffen, Frieden bewahren, die Schöpfung schützen, mit dem Nächsten solidarisch sein… . Es gibt genügend Dinge, die uns Menschen auch aktuell fordern. Aber aus den Worten Benedikts klingt eine Sorge, ja Angst vor der Welt, die mir völlig fremd ist.

Auch wenn ich manches gerne anders hätte, ich lebe gerne, und zwar hier und heute, und in dieser Welt. Ich bin begeistert über all die vielen Entwicklungsschritte, die wir als Menschheit im Laufe der Geschichte gegangen sind. Manches an heute selbstverständlichen Freiheiten und Standards haben Generationen von Menschen vor uns erstritten und erkämpft. Ich freue mich heute in einer Gesellschaft leben zu können,

_in der ich frei meine Meinung sagen darf,

_in der ich Parteien wählen und abwählen kann,

_in der es ein Grundgesetz gibt, dass menschliche (und damit am Ende auch christliche) Werte schützt,

_ich freue mich darüber, dass es eine Pressefreiheit gibt und dass so etwas wie Gewaltenteilung erfunden wurde,

_dass ich die Musik hören kann, die ich mag und dass es davon mehr als genug gibt,

und und und.

Nein, diese Welt macht mir keine Angst, auch wenn es viele bedrückende und bedrohliche Entwicklungen gibt. Ja es warten viele Herausforderungen in der Welt auf uns, die wir als Menschheit lösen müssen. Aber war das in der Geschichte der Menschheit jemals anders?

Kardinal Ratzinger warnt vor der „Diktatur des Zeitgeistes“, der die Kirche bedrohe und nutzt dazu das biblische Bild von den Jüngern, die mit Jesus im Boot sitzen als ein Sturm hinwegfegt. Er deutet dabei das Boot als Kirche und den Sturm als „bedrohlichen Zeitgeist“. Und dieses Boot droht zu kentern. „Benedikt funkt Kirchen-SOS“, titelte demzufolge die Bild Zeitung.

Mir geht die Frage durch den Sinn, ob die Kirche im Moment nicht wesentlich stärker bedroht wird, durch ihr Festhalten an feudal-monarchischen Machtstrukturen und ihre Skepsis bezüglich synodaler-demokratischer Strukturen. Ich frage mich, warum ich so manche „Erfindungen“ der Gesellschaft, die mir lieb und teuer sind, in der Kirche nicht wiederfinde.

Darüber nachdenkend kommt mir eine andere biblische Szene in den Sinn: Da sind ebenfalls die Jünger im Boot. Plötzlich erscheint ihnen aber Jesus, der ihnen über den See gehend entgegenkommt. Seine Botschaft ist einfach: „Komm!“. Er fordert Petrus auf aus dem Boot auszusteigen und ihm entgegenzukommen. Wer sich in eine kirchliche Sonderwelt zurückzieht, der wird nicht Jesus entgegengehen. Christus begegnet uns in der Welt, mitten im Zeitgeist.

Das ist doch gerade das Radikale an der Botschaft des Mannes aus Nazareth. Gott finden wir im „Hier und Jetzt“, mitten in der Welt, bei den Brüdern und Schwestern. Deshalb formuliert gaudium et spes in einem der schönsten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“

(gaudium et spes 1)

Nein, ich habe keine Angst vor dem Zeitgeist, sondern ich lebe gerne -vertrauend auf Gottes Heiligen Geist – in dieser Zeit. Nein, ich sehe die Kirche nicht bedroht durch die „Diktatur“ des Zeitgeistes, sondern ich bin zuversichtlich, dass wir miteinander im gemeinsamen (!) Deuten der Zeichen der Zeit Wege finden, wie Kirche auch in Zukunft einen wichtigen Dienst für die Menschen dieser Welt ausüben kann.

„Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit“, hat der Jesuit Willi Lambert einmal formuliert. Ja, das ist es, denke ich. Gott finden wir nur, wenn wir diese Welt als Gottes Schöpfung entdecken und wahrnehmen. Wer sich in einer solchen spirituellen Grundhaltung bewegt, der wird immer wieder in seinem Alltag entdecken, wie lebendig Gott ist. Das mag vielleicht manche Unheilspropheten überraschen, die fortwährend postulieren, die Welt sei gottlos geworden. Nein, mit Nichten! Die Welt kann Gott gar nicht loswerden. Gott ist viel mehr in der Welt, als viele denken!